Was ist Trauma?

photo expressing despair from trauma

Was ist ein Trauma?

Der Begriff Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie Wunde. Eine traumatisierende Erfahrung zeichnet sich dadurch aus, dass die Intensität des Erlebten trotz Stresstoleranz/Resilienz und der zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien und Handlungsmöglichkeiten uns existenziell dermaßen überfordert oder bedroht, dass wir diese Erfahrung nicht verarbeiten (=integrieren) können. Dabei ist nicht ausschlaggebend, wie extrem die Situation ist, sondern wie wir mit der Belastung umgehen können, dh. nicht jedes traumatische Ereignis löst gleichermaßen und allgemein ein Trauma aus.

Autonomes Nervensystem

Natürliche Reaktionen auf lebensbedrohliche Situationen können im Tierreich gut beobachtet werden: die vom Löwen verfolgte Antilope aktiviert instinktiv den sympathischen Teil ihres vegetativen Nervensystems (Fight or Flight); da sie einen Kampf nicht gewinnen kann, wählt sie die Flucht, gelingt ihr auch das nicht, übernimmt der parasympathische Teil ihres vegetativen Nervensystems die Körperregulation und antwortet auf die lebensbedrohliche Situation mit einem Freeze (Erstarrung) bis hin zum Shut Down (Erschlaffung und Herunterfahren aller Sinneswahrnehmungen), der dem Tier dazu verhilft, die Agonie des Todes nicht spüren zu müssen. Sollte der Löwe doch von ihr ablassen, da er glaubt, die Antilope sei bereits tot, wird sie im rechten Moment aufspringen, sich gründlich ausschütteln und zittern (Selbstregulation, Stressentladung, Abbau von Adrenalin) und fliehen. Durch die körperliche Entladung des Erlebten ist die Handlung für die Antilope abgeschlossen, sie ist trotz lebensbedrohlicher Situation nicht traumatisiert.

An diesem natürlichen Prozess lässt sich sehr gut ablesen, was häufig in der menschlichen Stressverarbeitung allgemein und bei traumatisierenden Erlebnissen im Besonderen fehlt: Die körperliche Entladung des Stresses und Regulation des Systems, für die insbesondere Kinder eine erwachsene Bezugsperson (vollständig entwickeltes Nervensystem) benötigen, da ihr Nervensystem diese Selbstregulation noch nicht gelernt hat. Bleibt diese Regulation durch eine Bezugsperson aus, entwickelt das Kind eine unzureichende Toleranz für Stress sowie Ersatzhandlungen für die ausgebliebene Integration der Erfahrung (=Traumatische Erinnerung als unvollendete Handlung). Der angestaute, unverarbeitete Stress (Trauma) führt zu einem dauerhaft erhöhten Stressniveau und hat damit weitreichende Auswirkungen auf Psyche, Gesundheit und Vegetativum, äussert sich häufig somatisch: muskuläre Anspannung, verschiedenste, körperliche Symptome (häufig viszeral)  bis hin zur Chronifizierung. Die Ersatzhandlungen, die wir entwickeln, verschlechtern unsere individuelle Stresstoleranz noch weiter.

Aufgrund der fehlenden, mentalen Energie lösen bereits kleine Herausforderungen schnell eine für die Situation inadäquate, sympathikotone (Hyperarousal) oder paraysmpathikotone (Hypoarousal) Reaktion des Nervensystems aus, in welcher die mentale Verarbeitung der Situation blockiert wird, während die gleiche Herausforderung bei Menschen ohne erhöhtes Stressniveau bzw. ohne Traumafolgestörung innerhalb ihrer individuellen, gesunden Stresstoleranz und damit mental integrierbar verarbeitet werden kann.

Dissoziationskontinuum

Das Traumaspektrum beschreibt den Verlauf  von gelingender bis gescheiterter Verarbeitung von Stress und Überwältigung, beginnend mit:

  • Anpassungsstörungen
  • akute Stressreaktion
  • primär strukturelle Dissoziation = posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS)
  • sekundär strukturelle Dissoziation = komplexe Traumafolgestörungen (kPTBS)
  • bis zur tertiär strukturellen Dissoziation = dissoziative Indentitätsstörung (DIS), bei der sich die Betroffenen so stark von ihrer Erfahrung distanzieren, dass sie das Erlebte nur ertragen können, indem sie es vollständig abspalten (dissoziieren) und dafür eine oder mehrere weitere Persönlichkeitszustände etablieren, die das Erlebte für sie tragen.

Dissoziation (= das „Nichtrealisieren“ der Traumatisierung) manifestiert sich auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität (teildissoziativ oder vollständig) innerhalb des Traumaspektrums:

  • Depersonalisation (fehlender persönlicher Bezug)
  • Derealisation (traumähnliche Unwirklichkeit)
  • Desomatisation (Körper/Schmerz nicht spüren)
  • Deaffektualisierung (Emotionale Distanz)
  • Detemporalisation (verzerrtes Zeitgefühl)

Es kann zu partieller oder vollständiger Amnesie der traumatisierenden Erfahrung kommen, die sich durch Intrusionen ins Bewusstsein bringen, sowie zu Flashbacks, Freeze und Shutdown Erlebnissen, oder zu Identitätsunsicherheiten bis zum Identitätswechsel (tertiäre Dissoziation) führen, die auch von Amnesien und/oder Fugue im hier&jetzt begleitet werden. Es wird inzwischen sogar diskutiert, ob ein Großteil der psychogenen Störungen wie Angst- und Zwangsstörungen, Somatisierungsstörungen oder Persönlichkeitsstörungen, ebenfalls ihren Ursprung in traumatisierenden Erlebnissen haben.

 

Zu PTBS auslösenden Erlebnissen gehören zB. Schocktraumata wie Unfälle, Krieg, Naturkatastrophen, Tod etc, hier kommt es besonders häufig zu den Flashbacks und damit verbundener Panik.

Ein Entwicklungstrauma (kPTBS) hat seinen Ursprung idR. in der Kindheit und ist wesentlich komplexer und häufig auch subtiler. Auslöser sind z.B. emotionale Vernachlässigung, Abwertung, Gewalt, Missbrauch etc., die sich vor allem durch die Wiederholungen auszeichnen, die dem hilflosen und von den Bezugspersonen abhängigen Kind immer wieder enormen Stress erzeugen, ohne dass es die Möglichkeit hat, diese Situationen abzuwehren oder sich zu entziehen (Fight or Flight). Dabei ist das Kind in der Ambivalenz zwischen Bindung und Liebe zu seinen Bezugspersonen und der Angst und dem Schrecken, die die traumatisierenden Erlebnisse erzeugen, gefangen.

Als Überlebensstrategie wird deshalb die teilweise oder vollständige Dissoziation des traumatisierenden Erlebnisses sowie die Identifikation mit dem Aggressor durch Introjektion der Bedrohung und Bildung eines ich-dystonen Introjekts (schuldhafte Verarbeitung, verinnerlichte Stimme) gewählt. Auf diese Weise kann die Bindung (Überleben) und damit eine vordergründige, stimmige Integrität mit sich selbst und der Bindungsperson aufrecht erhalten werden, da die natürlichen, instinktiven Reaktionen auf lebensbedrohliche Situationen dem Kind in seiner Abhängigkeit von der Bindungsperson nicht zur Verfügung stehen. Der Übergang zur tertiären Dissoziation ist fließend und abhängig von der Intensität des Erlebten, hierzu kommt es vor allem bei Opfern organisierter (sexualisierter) Gewalt.

Dissoziation und Introjektbildung sind also überlebenswichtige Schutzmechanismen für das hilflose Kind, sind aber im Erwachsenenleben nicht mehr adäquat und auch idR. nicht mehr notwendig. Deren Aufrechterhalten benötigt ausserdem enorme mentale Energie, was sich symptomatisch von Erschöpfung, über Intrusionen und Flashbacks des traumatisierenden Erlebnisses bis hin zum Zerfall der Ich-Identität auswirkt und dazu führen kann, dass die betroffene Person nicht mehr fähig ist, ein normales Leben zu führen, dh. der Leidensdruck ist sehr ausgeprägt. Traumatisierende Erlebnisse wirken sich also massiv auf die Organisation des Nervensystems und das innere System aus, weshalb Traumafolgestörungen auch als physiologische Erkrankung gelten, da sich die Auswirkungen auf mentaler und handlungsbasierter Ebene von der Person nicht willentlich steuern lassen. Das auf Alarm programmierte und sensibilisierte Nervensystem erhält einen triggernden Reiz und das eingespielte und neuronal verknüpfte Reaktionsmuster läuft automatisch ab und wird als ich-dyston und fremdbestimmt erlebt.

Erste Schritte, um das Nervensystem umzustrukturieren sind die Ressourcenarbeit, die als Gegengewicht zu den belastenden Erlebnissen Fokus auf die Stärken und Fähigkeiten der Person legt und die mentale Energie stärkt, sowie eine unterstützende, mitfühlende und Sicherheit spendende Umgebung, welche das Verweilen im ventral-vagalen Bindungsmodus ermöglicht. Das Identifizieren externer Ressourcen und Bindungspersonen, auf die zurückgegriffen werden kann, ist ebenfalls ein wichtiger Schritt. Durch diesen Fokus können sich neue Nervenbahnen verknüpfen und durch Wiederholung verstärken, welche der Person künftig in herausfordernden Situationen helfen, Schritt für Schritt eine adäquatere, vegetative Reaktionsstrategie zu aktivieren und sich immer weiter zu stabilisieren. Wie bei allem, was neu erlernt wird braucht es Geduld, um diese bis dahin nicht oder kaum vorhandenen Nervenverknüpfungen zu etablieren. Therapeutische Methoden in der Stabilisierungsphase sind zb. Ressourcen- Freude- oder Dankbarkeitstagebuch, Achtsamkeitsübungen, Imagination eines sicheren Ortes, Innere Stärken Konferenz, Umgang mit Flashbacks und Freeze üben.

 

Das Innere System

Sobald das System ausreichend stabilisiert ist, beginnt das traumatische Material sich zu zeigen, da es integriert werden möchte. In der Traumatherapie wird deshalb viel mit Imagination und hypnotherapeutischen Methoden gearbeitet, die es ermöglichen, die innere Landkarte und Organisation der Persönlichkeit kennenzulernen und umzustrukturieren. Allem voran geht es dabei um das mitfühlende und fürsorgliche Bezeugen verletzter Anteile, das Erkennen und Anerkennen der einst als überlebensnotwendig erschaffenen Schutzmechanismen und das sich Gewahr werden der zeitlichen Diskrepanz (hier&jetzt vs. dort&damals).

Durch die vorbereitenden Imaginations- und Beobachterperspektiv-Übungen wird Kontakt mit der inneren Welt aufgenommen, es wird wahrgenommen, dass es immer noch jemanden im Inneren gibt, der alles beobachten kann, es werden die ich-syntonen Ego-States (willentlich zugängliche Selbstanteile, zB.unsere Rollen in Familie, Arbeit, Freundschaft, Öffentlichkeit) kennen und zu unterscheiden gelernt und die Wahrnehmung und Auswirkung von Gefühlen und Gedanken geschärft. Diese Vorbereitung ist essentiell für die herausfordernde Phase der Traumakonfrontation, bei der ebenfalls durch Imaginationsübungen die dissoziierten, verletzten inneren Anteile eingeladen werden, sich in ihrer existenziellen Not zu zeigen.

Diese verletzten oder fragilen Anteile sind in dem traumatisierenden Erleben gefangen, sie halten sozusagen die Erfahrung für uns, die wir dort&damals abspalten mussten, um zu überleben. Sie werden meist durch einen ich-dystonen Anteil beschützt, der bei Gefahr (Trigger) unser Überleben sicherstellt (Kontrolle) und kämpft (Wutausbrüche, Aggression, Gewalt, Täterintrojekt) und damit zu verhindern versucht, dass uns der getriggerte, fragile Anteil mit seinen Gefühlen überfordert (Intrusion).

Nach Richard Schwarz und seinem Ansatz des Internal Family System (IFS) gilt es zB. zuerst die Erlaubnis des Beschützeranteils einzuholen, um Kontakt mit dem verletzten oder fragilen Anteil aufzunehmen. Sobald der fragile Anteil emotional bezeugt und aus der traumatischen Situation befreit ist, kann der beschützende Anteil eine neue Aufgabe im inneren System übernehmen. Häufig sind diese Beschützeranteile besonders kraftvolle, talentierte, kreative etc. Anteile, deren Fähigkeiten dem System aufgrund ihrer Beschützerrolle bis dahin nicht zur Verfügung standen. Eine dritte Variante eines traumatisierten Anteils ist auf Bindung fixiert und äussert sich häufig als „People Pleaser“, zB. in Form von Schwierigkeiten mit Abgrenzung und Nein-Sagen, überzogenem Bedürfnis nach Anerkennung und fehlendem Selbstwert.

 

 

Die Herausforderung besteht nun darin, unsere Angst vor den Gefühlen und Erinnerungen der verletzten Anteile zu überwinden und mit Unterstützung eines sicheren und stabilen Umfeldes den Mut zu fassen, diese Gefühle und Erinnerungen zu bezeugen und zuzulassen, sodass sie in das innere System integriert werden können. Typische Vermeidungsstrategien sind übermäßige Beschäftigung (Workaholic), Substanzmißbrauch, emotionaler Rückzug, Bindungsvermeidung, Schuldzuweisung auf Andere, Rationalisierung etc. (siehe S. Freud Abwehrmechanismen) – auf diese Weise können wir unsere Alltagsfunktionen aufrecht erhalten und müssen uns dem Erlebten nicht stellen.

Dissoziation ist eine Ersatzhandlung für die Integration, die (noch) nicht stattfinden konnte (Vollendung der Handlung). In der Therapie wird auf sehr sanfte und langsame Weise Schritt für Schritt Kontakt mit den verletzten und fragilen Anteilen aufgenommen, wobei sicher gestellt sein muss, dass wir uns gut emotional stabilisiert auf dieses Wagnis einlassen, um eine Retraumatisierung zu verhindern.

Eine Methode ist die Innenkonferenz, eine Imaginationsübung, bei der wir einen für uns wesentlichen, negativen Glaubenssatz identifizieren, diesen ins Positive umkehren und damit zur inneren Konferenz aller Anteile einladen, die sich dazu äussern möchten. Üblicherweise zeigen sich dann diejenigen Anteile, für welche diese positive Aussage nicht zutrifft, sodass wir die Möglichkeit erhalten, die Gefühle und Vorstellungen dieser Anteile zu bezeugen, zu fühlen und sie dadurch zu entlasten und aus ihrer Rolle zu befreien.

Sobald wir die traumatische Erinnerung synthetisiert haben (realisiert, personifiziert und präsentifiziert), ist die Handlung vollendet.